Berta Schmitt – Eine Kindheit und Jugend im Dritten Reich / Tondokument Zeitzeugenbefragung zu Fulda im 2. Weltkrieg

Arbeitsmaterial zur Unterrichtsreihe: Unsere Heimat – Landkreis Fulda
Zeitzeugenbefragungen 2. Weltkrieg und Nachkriegszeit in Fulda

Berta Schmitt – Eine Kindheit und Jugend im Dritten Reich

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Nachfolgend eine Auflistung der Kapitel und, wenn verfügbar, die gesprochenen Texte zum mitlesen.
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Befrager: Günter Sagan
Für Frau Berta Schmitt spricht ihre Tochter Marita Glaser.

1. Persönliche und allgemeine Lebensverhältnisse in einem Rhöndorf in den 1930er Jahren

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Befrager:
Frau Schmitt, sie wurden als Berta Wehner am 26. Januar 1924 in der tiefsten Rhön geboren.


Frau Glaser als Tochter für ihre Mutter:
Ja, ich war das älteste Kind des Landwirts Josef Wehner und seiner Ehefrau Ida, geborene Heller. Ich wuchs in Reulbach auf. Heute ist das Dorf Teil der Gemeinde Ehrenberg. Der hoch gelegene Ort an der Wasserkuppe zählte nur wenige Hundert Einwohner. Mein Vater war Kleinbauer. Wir hatten vier Hektar Land und vier Kühe und zählten zu den ärmsten Bewohnern des Dorfes.

Ab dem sechsten Lebensjahr besuchte ich die Volksschule im Dorf. Während der Schulzeit trat ich mit elf Jahren 1934 als „Jungmädel“ in den Bund Deutscher Mädchen (BdM) ein. Meine Mutter schickte mich dorthin, sie war Leiterin der NS Frauenschaft im Ort, allerdings war sie kein Parteimitglied. Bei diesen Treffen wurde überwiegend gespielt, vor allem Spiele, die der Körperertüchtigung dienten, wie z.B. Völkerball.Unsere Schulzeit war von einem strengen Tagesrhythmus geprägt. Morgens um 7:00 Uhr, also vor der Schule, mussten wir täglich in die Kirche. Diese war ohne Heizung, und unsere Bekleidung bestand aus selbst gestrickten Strümpfen, Holzschuhen (Sommer und Winter), einem Rock oder Kleid, was die Mutter genäht hatte und darüber in der kalten Jahreszeit eine Strickjacke. Anoraks oder andere Jacken kannten wir nicht. Nach dem Gottesdienst gingen wir dann mit unseren Stofftaschen (Schulranzen gab es bei uns nicht) in die ebenfalls kalte Schule, und der hier stehende Ofen wurde erst nach Unterrichtsbeginn angeheizt. Holz wurde regelmäßig von der Gemeinde geliefert, nicht wie in anderen Gemeinden, wo die Schüler noch Holzscheite von zu Hause mitbringen mussten. Zum Unterricht gehörte auch das Fach Handarbeit, und sehr oft hatten wir kein Geld, das nötige Material (Garn, Nadeln usw.) zu bezahlen, so konnte ich kein „Leibchen“ (Unterhemd aus Trikotware mit angenähten Strumpfhaltern) nähen, da meine Mutter das Geld nicht aufbrachte.

Nach der Schule mussten wir die Hausaufgaben erledigen, aber ohne dass die Eltern einen Blick darauf warfen. Sobald wir damit fertig waren, wurden wir in der Haus- oder Stallarbeit eingespannt. Holz musste geholt werden, die Kühe wurden zur Trift geführt und dort gehütet. In den letzten drei Jahren vor dem Tod der Mutter mussten wir die Kartoffeln und andere Vorräte aus dem Keller holen, da sie keine Treppe mehr steigen konnte. Mit uns im Haushalt lebte noch die fast blinde 85-jährige Oma, die ebenfalls mit versorgt wurde. In ihrem Zimmer stand dann auch das Bett, in dem meine Schwester Cilli und ich gemeinsam schliefen, in selbst gestrickter Unterwäsche, Schlafanzüge kannten wir nicht. Auch meine Geschwister teilten sich jeweils zu zweit ein Bett. Im Winter hatten wir Flugschnee im Zimmer, da die Fenster undicht waren. Oft halfen wir auch bei den Nachbarn während der Ernte und erhielten dafür eine kleine Anerkennung in Form von Lebensmitteln.
Gehungert haben wir nicht. Alle drei Wochen wurde Brot gebacken, wir bauten Gemüse im Garten an, Milch kam von den Kühen und Kartoffeln vom Acker. Abends wurde häufig Dickmilch mit Pellkartoffeln gegessen. Zähneputzen kannten wir auch nicht, ich habe trotz meines hohen Alters noch kein Gebiss.

Im Sommer sammelten wir Heidelbeeren im Bereich Danzwiesen/Milseburg, da in unserem Wald keine Heidelbeeren wuchsen, und wir liefen in den Holzschuhen bis dorthin. Für die lange Wegstrecke hatten wir eine Flasche Wasser und ein Stück trockenes Brot dabei. Die Heidelbeeren wurden dann an einen Kaufladen im Dorf verkauft.Jetzt im Alter haben wir von allem genug. Im Herbst sammelten wir Hagebutten, die ebenfalls verkauft wurden. Meine jüngeren Schwestern hüteten auch die kleinen Kinder der Nachbarn und trugen so zum Lebensunterhalt bei.

Um die vierte Kuh und deren Milch für uns verbrauchen zu können, gingen wir zum Grasmähen mit der Sense auf die Wasserkuppe. Für den Heimtransport spannten wir dann die Kühe vor den Leiterwagen. Ich konnte nicht so gut mähen wie meine Schwestern und hatte auch Angst vor den Kühen beim Melken. Da ich nicht so herzhaft zufasste, traten die Kühe auch schon mal aus. Wir hatten auch kein Fahrrad und auch keinen Schlitten. Das Fahrradfahren habe ich später auf dem Rad meines Mannes geübt, aber nie richtig beherrscht. Strümpfe wurden gestopft, Flachs gebrochen und Schafswolle gesponnen. Das war unsere Freizeitgestaltung in den noch hellen Abendstunden in einem leerstehenden Raum im Dorf, wo sich die Frauen sammelten. Wenn wir dann später in die Stadt wollten (drei Schwestern waren in Haushalten von Geschäftsleuten in der Stadt Fulda beschäftigt oder ich in Eckweisbach, Kleinsassen oder Hilders), mussten wir zur nächsten Bahnstation entweder nach Rupsroth oder Batten laufen.

2. Pflichtjahr für alle Frauen

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Befrager:
1938 führten die Nationalsozialisten das Pflichtjahr ein. Es galt für alle Frauen unter 25 Jahren und verpflichtete sie zu einem Jahr Arbeit in der Land- und Hauswirtschaft. Ohne den Nachweis über dieses abgeleistete Jahr konnte keine Ausbildung begonnen werden.


Frau Glaser als Tochter für ihre Mutter:
Nach dem Ende der damals acht Jahre dauernden Volksschulzeit war ich 14 Jahre alt und musste ebenfalls das Pflichtjahr ableisten, das gerade eingeführt worden war. Ich durfte aber noch ein halbes Jahr im elterlichen Haus bleiben. Wir waren ja insgesamt sechs Kinder. Ich als Älteste musste mit zupacken. Maschinen für den Haushalt gab es nicht, keine Zentralheizung, alles Handarbeit. Da war bei neun Personen im Haus Arbeit von morgens bis abends genug vorhanden.
Ein halbes Jahr später, kam ich doch fort. Ich leistete das zweite Halbjahr des Pflichtjahres vom 1. Oktober 1938 bis zum 31. März 1939 in Eckweisbach bei der Familie Hof ab. Herr Hof war Lehrer im Ort. Ich musste Frau Hof im Haushalt helfen. 

3. Berufswunsch: Kindergärtnerin

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Befrager:
Frau Schmitt, Ende März 1939 hatten Sie das Pflichtjahr abgeschlossen. Wie verlief Ihr Lebensweg nun weiter?

Frau Glaser als Tochter für ihre Mutter:
Nach dem Ende des Pflichtjahrs in Eckweisbach ging ich wieder nach Hause. Meine Eltern konnten die Arbeit mit meinen fünf Geschwistern nicht schaffen. Erst als meine Schwester Cilli 14 Jahre alt war und aus der Schule kam, konnte ich meinem Berufswunsch nachgehen und mich für die Arbeit in einem Kindergarten melden. Meine Schwester musste jetzt meine Aufgaben im elterlichen Haushalt übernehmen.

4. Gehilfin in einem NSV-Kindergarten

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Befrager:
Sie erhielten eine Stelle in einem NSV-Kindergarten. Die NSV-Kindergärten waren Teil der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt. Diese war ursprünglich als Verein gegründet worden und erhielt nach der Machtergreifung den Status einer Parteiorganisation in der den Staat beherrschenden NSDAP. Die NSV untergliederte sich in viele Hilfswerke und übernahm besonders viele Aufgaben im Bereich der Kinder- und Jugendarbeit.

Frau Glaser als Tochter für ihre Mutter:
Ja, es gelang mir im Mai1940 eine Stelle als Gehilfin in Hilders in einem NSV-Kindergarten zu erhalten. Ich konnte aber nicht lange bleiben, denn meine Mutter erkrankte, und ich musste zurück nach Reulbach. Sie kam leider nicht wieder auf die Beine und verstarb am 9. August 1940 an Herzasthma. Da war ich gerade mal 16 Jahre alt und schon wieder im Kindergarten in Hilders, wo ich gebraucht wurde.

In Hilders blieb ich bis etwa September 1941. Dann versetzte mich die NSV-Kreisleitung in den Kindergarten nach Kleinsassen. Dort tat ich Dienst bis zum März 1942. Hieran schloss sich ein zweiwöchiger Ausbildungslehrgang in Fritzlar an. Anschließend erhielt ich eine Stelle als Hilfskindergärtnerin in Jossa.

5. Hilfskindergärtnerin in Jossa

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Befrager: Die Gemeinde Jossa gehört heute zu Hosenfeld und liegt im östlichen Vogelsberg. Sie zählt etwa so viel Einwohner wie Reulbach. Frau Schmitt,wie erging es Ihnen denn dort?

Frau Glaser als Tochter für ihre Mutter:
Als ich etwa im Mai 1942 als Kindergartenhelferin nach Jossa kam, konnte ich keine Wohnung im Kindergarten erhalten. „Dort wohnt schon eine Familie“, erklärte mir der Bürgermeister. Ich erhielt ein Zimmer im Hof von Naus, wo ich auch meine Abende verbrachte. Ich machte Handarbeiten, ich habe viel gestrickt. Der Bauer brachte mir manchmal auch etwas zu essen. Da war ich nicht nur auf meine Lebensmittelmarken angewiesen.

Der Dienst im Kindergarten begann um 8 Uhr und endete 16 Uhr. Außer mir war noch Paula (Hasenau) da. Sie kochte mittags für die etwa 20 Kinder, die wir betreuten. Die Kinder schliefen dann auch da. Für die Mütter bedeutete dies eine große Hilfe. Viele Männer standen an der Front, und die Frauen hatten eine große Arbeitsbelastung im Haus, auf dem Hof und auf den Feldern. Doch der Kindergarten war nur ein sogenannter Erntekindergarten. Wenn die Arbeit im späten Herbst im Dorf nachließ, wurde er wieder geschlossen. So konnte ich auch nur bis Ende Oktober1942 in Jossa bleiben.

6. Reichsarbeitsdienst

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Befrager:
Frau Schmitt, Anfang November 1942 zog man sie zum Reichsarbeitsdienst ein. Zu diesem Reichsarbeitsdienst (RAD) konnte jeder Jugendliche, jede Jugendliche nach der Einführung des Reichsjugenddienstpflichtgesetzes von 1939 verpflichtet werden.

Frau Glaser als Tochter für ihre Mutter:
Anfang November 1942 erhielt ich einen Marschbefehl nach Echteler (heute Ortsteil von Laar, nordwestlich von Nordhorn). Unser Lager 12/172, es bestand aus Baracken, befand sich nur zwei Kilometer von der niederländischen Grenze entfernt. Wir wurden im umliegenden Gebiet bei verschiedenen Familien eingesetzt, um dort Hausarbeiten zu verrichten. Ich z.B. musste bei einem Witwer das Kochen übernehmen. Andere halfen auch in den Gärten und auf den Feldern. Abends wurde im Lager immer Flaggenappell abgehalten. Da hieß es strammstehen. Fast jede Nacht donnerten über uns die feindlichen Bomber beim An- oder Abflug auf die deutschen Städte. Das war schon unheimlich und man bekam Angst. Ende März 1943 war die RAD-Zeit vorbei, da ging es wieder zurück.

7. Zurück im Kindergarten in Jossa

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Befrager:
Ab April 1943 waren Sie wieder zu Hause im Landkreis Fulda. Wie ging es nun weiter?


Frau Glaser als Tochter für ihre Mutter:
Ich kam wieder in den NSV-Kindergarten in Jossa. Der konnte nun mit Beginn der arbeitsreichen Sommerzeit wieder eröffnet werden. Die Eltern erreichten es auch, dass es nicht nur ein Ernte-Kindergarten bleiben sollte.

8. Flakhelferin im Raum Bremen

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Befrager:
Trotzdem konnten Sie nicht so lange bleiben, wie Sie es sich gewünscht hatten.

Frau Glaser als Tochter für ihre Mutter:
Ich wurde im Sommer 1944 als Flakhelferin nach Bookholzberg (heute Teil von Ganderkesee, wenige Kilometer westlich von Bremen) eingezogen. Ich kam zu einer Batterie mit Flugabwehrgeschützen (Flak) und einer Scheinwerferbatterie, die den nächtlichen Himmel nach Feindfliegern absuchte, damit die Kanonen ein besseres Ziel hatten. Wir gehörten zur Flakzone Bremen. Ich erhielt eine Luftwaffenuniform und wurde zum Telefondienst eingesetzt. Ich musste die eingehenden Meldungen weitergeben. Anfang April 1945 stießen die englischen Soldaten immer weiter nach Norddeutschland vor. Die großen Scheinwerfer wurden gesprengt. Wir Mädels erhielten einen Marschbefehl nach Halle an der Saale. In Wirklichkeit ging es aber nach Hause, der Krieg näherte sich ja dem Ende, und wir wussten, dass sich der Russe schon vor Halle befand. Also sahen wir zu, dass wir nach Hause kamen. Nachts schliefen wir in Scheunen. Unser Weg führte über Verden an der Aller. Als ich endlich wieder in Reulbach ankam, war die Kriegszeit wirklich zu Ende. Es waren die Engländer auf der Wasserkuppe, und in unserem Haus waren Amerikaner einquartiert, aber einer konnte Deutsch, und so waren wir geschützt.