Josef Bleuel – Prägung durch Krieg und Gefangenschaft / Tondokument Zeitzeugenbefragung zu Fulda im 2. Weltkrieg

Arbeitsmaterial zur Unterrichtsreihe: Unsere Heimat – Landkreis Fulda
Zeitzeugenbefragungen 2. Weltkrieg und Nachkriegszeit in Fulda

Josef Bleuel – Prägung durch Krieg und Gefangenschaft

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Nachfolgend eine Auflistung der Kapitel und, wenn verfügbar, die gesprochenen Texte zum mitlesen.
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Erlebnisse von Josef Bleuel am Kriegsende 1945 und in der sowjetischen Gefangenschaft (Bearbeitet von Günter Sagan)

Zur Person von Josef Bleuel

Geboren: 4. April 1915 in Rudolphshan/Krs. Hünfeld
Gestorben: 19. September 2008 in Rudolphshan
Beruf: Anstreicher

Lebensweg

Ab 1929: Ausbildung und Arbeit im Beruf
1. Oktober 1936: Eintritt in den Reichsarbeitsdienst (RAD)
1. März 1939: Westwalleinsatz
September 1939: Soldat in der Wehrmacht
Mai/Juni 1940: Teilnahme am Westfeldzug
1941 – 1945: Teilnahme als Kraftfahrer am Krieg gegen die UdSSR
9. Mai 1945: sowjetische Kriegsgefangenschaft
13. März 1949: Rückkehr in die Heimat
Danach: Arbeit im Beruf

1. Erinnerungen an den Onkel Jopp

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2. Letzte Kämpfe in Ostpreußen

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Handschriftliche Aufzeichnungen von Josef Bleuel (Nach dem 20. Juli 1944)

„Aber der Krieg ging weiter, bald kamen wir nach Ostpreußen. Dann ging der Krieg erst richtig los, um jeden Meter hart [gekämpft]. Härter ging’s gar nicht mehr. Als wir runter nach Allenstein kamen, flogen in der Stadt etliche Panzerfäuste rum. Auf einmal Alarm. Russische Panzer! Aber da hat es geknallt. Viele Panzer gerieten in Brand, und viele Panzer konnten nicht vorwärts noch rückwärts. Flüchtlinge dazwischen. Mehr Durcheinander konnte gar nicht mehr sein. Tote gab es stündlich. Jeder ging auf die Russen, aber es kamen immer mehr Russen. Eines Tages waren wir in Danzig. Am letzten Abend kamen englische und amerikanische Bomber, 240 Stück. Auch russische Panzer waren da. Von allen Seiten Front. Auch der Volkssturm war da. Der Volkssturm machte sogar Bajonettkampf mit den Russen. Als Danzig gefallen war , wurden wir über die Weichsel auf die Frische Nehrung gesetzt. Front 1,5 – 2 km breit. […] Wenn wir nicht die Feuerunterstützung vom „Prinz Eugen“ (Zerstörer) gehabt hätten, so hätten wir den Russen nicht gehalten. Der Russe kam mit 12 Wellen an. Der Zerstörer mit 15,5 cm Batterie auf die Russen. Kleine Berge von Toten. Der Wald sah aus wie der Argonner Wald im Ersten Weltkrieg. Der Russe konnte keinen Quadratmeter gewinnen. Die Kommissare jagten die Russen ohne Hemmung ins Feuer. Das ging drei Wochen Tag und Nacht. Auf der Frischen Nehrung, da war ein kleines Kirchlein. Da hatten sich die Nazi-Goldfasanen ausgezogen, da waren wunderschöne braune Hemden dabei. Ein schönes Nazihemd habe ich angezogen und drei Stück in den Wäschebeutel gepackt. Mein altes Hemd hatte ich vier Monate an, zu waschen ging mein Hemd nicht mehr. Voller Läuse und Wanzen, dreckig und brüchig.“

3. Kapitulation

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„Dann ging es noch weiter bis zum 8. bis 9. Mai [1945]. Geschossen haben wir bis 12.30 Uhr. Dann kam der General von der 4. Panzerdivision bei uns in die Feuerstellung. ‚Hört auf, hört auf! Es ist Schluss mit dem Krieg, Jungens, es ist Schluss!‘ Dann haben wir uns ein Stück zurückgezogen. Nicht weit von uns an der Ostsee, da lief Bier aus dem Krane [?]. Da stand die Kasse mit Geld. Es war ein schönes Hotel. Sechs schöne schwarzbunte Kühe lagen tot auf dem Hof, die Leute waren alle geflüchtet. Dann kam unser Zahlmeister mit etlichen tausend Mark. Der Morgen war frisch am 9. Mai. Da haben wir gesagt: ‚Bis der Russe kommt, machen wir Feuer mit dem Geld vom Hotel und mit dem Geld vom Zahlmeister. Jetzt hatten wir Feuer und wärmten uns die Finger. Auf einmal kam der Iwan. Ein russischer Oberleutnant: ‚BetschiemoBitschieDennkiekaput?‘ Warum macht ihr Feuer und verbrennt das Geld? Wir sagten: ‚Woinakaput, Geld kaput.‘“

4. Gefangenschaft

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Auf dem Marsch
„Nachdem wir das Geld verbrannt hatten, mussten wir uns aufstellen, Richtung Gefangenschaft marschieren 80 km bis Braunsberg/Ostpreußen. (Jeden Tag 40 km bis Braunsberg, 80 km zwei Tage.)

Der Marsch war Abwechslung. Zuerst kamen wir an einem KZ-Lager vorbei. Die Gefangenen standen vor dem Tor. Ein tätowierter Russe war auch dabei. Der Russe rief und streckte die Arme aus: ‚Hitler kaputt, morgen Stalin kaputt.‘ Der Marsch ging weiter. Bis zum Abend waren 40 km hinter uns. In der Gegend von Ostpreußen was sehr viel mit Wasser überschwemmt. Lagen kleine Gruppen von Russen an den Straßenböschungen mit Gewehren, um uns zu überfallen. Wenn ein Soldat Ehering oder Goldzahn im Mund hatte, so wurde das weggenommen. Bis ein russischer Leutnant geritten kam und merkte, was da gespielt wurde. Der Leutnant stieg vom Pferd. Ein deutscher Landser [musste es] halten. Er nahm eine deutsche M.P. ab, packte einen russischen Unteroffizier an die Seite und rasselte mit der M.P. den Unteroffizier nieder. Als wir das gesehen hatten, war es vorbei mit dem Überfällen auf uns. Sowie die Russen uns angriffen, flogen die 3, 4, 5 Russen hoch im Bogen von uns ins Wasser und die Gewehre flogen hinterher. Wir hatten den Russen die räuberische Handlung abgestellt.

Am Abend des ersten Tages haben wir uns ein Lager gemacht. Stroh gab es von einem Strohhaufen. Wir waren am Abend gleich eingeschlafen. Gegen 12 Uhr nachts kam wieder ein Horde Russen. Die riefen: ‚Chassjess.‘ Wir suchen Uhren. In unserem Schlaftaumel bekamen wir das zu spät mit.

Ruckzuck hatte mir ein Russe die Uhr weggenommen mitsamt der Kette. Ich rief einem Landser zu: ‚Der Russe hat meine Uhr.‘ Der Landser war von Schlesien und ein Panzerknacker. Er nahm ein Zugseil von einem Militärfahrzeug und schlug auf den Russen ein, mausetot, schlug diesen um. Und ich kam wieder zu meiner Uhr. Dann gab es für uns dicke Luft. Wir zogen auf die andere Seite vom Strohhaufen bis zum nächsten Morgen. Großen Hunger und nichts zu essen.

Am zweiten Tag ging der Marsch weiter. Noch mal 40 km, ohne etwas zu essen. Endlich kamen wir in Braunsberg an. Zufällig [hatte] heute unsere Küche noch ein bisschen Spatzensuppe (Gerstensuppe).“

5. Im Gefangenenlager 7215 Uljanowsk

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„Nun blieben wir 14 Tage in einer deutschen Kaserne bis zur Verladung in einen Waggon Richtung Russland. 42 Mann gequetscht, 14 Tage lange Fahrt bis nach Sibirien. Hier wurde die größte Autofabrik Europas gebaut.

Die ersten acht Tage waren wir im Freien, nachher konnten wir hier und da Schutz bekommen. Als alles einigermaßen fertig war, kam das elendige Pferdefleischessen in der Suppe voller Maden, ob lebendig oder tot. Auf Empfehlung vom Arzt: Maden mitessen, das ist noch das Beste vom Fleisch. Wer es nicht konnte, war schon zum Tod verurteilt. Dystrophie war die Folgekrankheit. Dystrophie war Unterernährung, geistig nicht mehr zurechnungsfähig. Erst bis der Pferdekadaverberg verzehrt war, begann die Suppe besser zu werden. Vorher 2 km entfernt roch man schon die Pferdesuppen.

Es gab damals viele Kranke und Sterbefälle. Im September wurde das Massengrab ausgehoben. Viele Landser, die mitgearbeitet haben an dem Massengrab. Es gab keine Beerdigung. Früh kam ein wackeliges Pferdchen mit einem buckligen Iwan ins Lager gefahren, lud die in der Nacht verstorbenen Kameraden auf. Nackig wie ein Stück Holz aufeinander. Zuletzt ein Strick darüber und auf ging es auf den Kartoffelacker. Abgeladen wurde genauso wie aufgeladen. War noch eine Ecke frei, so wurde auch manchmal die Leiche kopfunter beerdigt. Ein verendetes Wildschwein im Wald wird besser beerdigt in Deutschland.

In vier Jahren Gefangenschaft Temperaturen einmal drei Tage -63° in 1947, sonst -40° bis -50° öfters kalt, von Mitte November bis März, Anfang bis Ende Winter im Durchschnitt -20 bis -30° kalt. Wir hatten auch Tage im Hochsommer mit 30° Hitze. Für schwache Leute war es auch schlecht zu arbeiten.

Wir haben auch öfters russischen Offizieren die Wohnung gemacht und haben in der Stadt Brot gefecht [gebettelt]. Viele Offiziere hatten selbst net satt zu essen. Wir haben ein N.K.W.D.-Gebäude in der Stadt gebaut. Da haben wir in der Mittagszeit einen Kameraden mit Stricken aus dem 2. Stock raus gelassen, weil unten zwei Mann Wache standen (Russen). Nach einer Stunde haben wir auf[gepasst], bis der Brotfechter wieder zurückkam, dann wurde der Brotfechter hochgezogen. Einen Posten kannte ich gut, dem brachte ich dann ein Stück Weißbrot. Es war nicht viel, aber er freute sich genauso wie wir. Die Posten waren auch arme Schweine. In der Stadt mussten wir schwer aufpassen, dass uns die Miliz nicht erwischte. Sonst kamen wir 6 Wochen ins Stadtgefängnis, war noch schlechter wie im Lager.

Ein Kamerad von Bayern mit Namen Fritz fühlte sich krank und er stellte sich in einen großen Raum unter ein heißes Luftgebläse. ‚Fritz‘, sagte ich, ‚das ist nicht richtig. Denn eine Stunde dauerte es, bis die 300 [Mann aus dem Außenkommando] im Lager [gezählt waren], weil die blöden Russen nicht zählen konnten. Öfters haben unsere Zugführer dann gezählt, sonst hätte die Zählung noch eine Stunde gedauert. Das unheimliche Stehen und Warten bei der Kälte war ja für so Kranke wie dem Fritz großes Gift. Drei Tage später war Fritz [mit seiner] Lungenentzündung tot. Also, wenn du krank wurdest, warst du verloren. Medikamente keine Spur vorhanden. Auf Baustellen lagen öfters fünf bis zehn Mann krank bei den Schaffenden von 200 bis 300 Mann.

Mit dem Pferdchen, das die Toten zum Kartoffelacker brachte, fuhren wir auch die Kranken von den Baustellen ins Lager zurück. Für viele der letzte Gang. Von 5000 Mann 2000 Tote auf dem Kartoffelacker. Jedes Jahr die Parole ‚Skorodomoj‘ (bald nach Hause). Mit dieser Parole waren vier Jahre vergangen. Als es zum Schluss ging, erhielt ich den Befehl, als Brigadier der Malerbrigade auf kleine Eisentäfelchen Nummern [für den Friedhof] drauf zu schreiben. Das Unkraut auf dem Kartoffelacker war noch mal 40 cm höher als ich groß war.

Ich habe nun das Gröbste als WoinaPlenny (Kriegsgefangener) in Russland dargestellt, es ist nur ein kleiner Teil von den Erlebnissen von Krieg und Gefangenschaft. Bei unseren Treffen als Spätheimkehrer mit Dr. Wolf, unserem ehemaligen Chefarzt (heute Rentner in Stuttgart), wird so mancher erinnert an die Lagerzeit.“

Fußnote:

Handschriftliche Aufzeichnungen von Josef Bleuel nach Entlassung, erhalten von Anneliese Heil am 07.08.2013. Wegen der besseren Verständlichkeit wurde der Text schonend und inhaltsneutral überarbeitet, da es sich bei dem Berichtenden um einen ungeübten Schreiber handelt.

Zur Abgleichung der geschilderten Ereignisse im Lager Uljanowsk fanden folgende Aufzeichnungen Verwendung: Dr. med. Erich Marsch, Herleshausen („Meine Kriegsgefangenschaft 10 Mai 1944 bis 12. Januar 1950“. Niedergeschrieben im April 1974. ) sowie die Aufzeichnungen von Chefarzt Dr. Wolf.